Die verlorene Geschichte by Rebecca Martin

Die verlorene Geschichte by Rebecca Martin

Autor:Rebecca Martin
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2012-10-18T22:00:00+00:00


1948

Mit siebzehn Jahren hatte Rike erfahren, dass ihre Mutter nicht schon vor Jahren bei einem der Bombenangriffe zu Tode gekommen war. Nein, ihre Mutter war aus Fleisch und Blut, war eine, die abgehauen war und Mann und Kind zurückgelassen hatte. Ein Flittchen.

Auch in späteren Jahren vergaß sie jenen Tag nie. Es war ein langweiliger Sonntagnachmittag gewesen. Sie hatte sich in das Boudoir ihrer Großmama geschlichen, einer feinen Dame, deren Frisiertisch Rike in diesen Jahren immer wieder magisch anzogen hatte. Es war die Zeit der ersten heimlichen Rendezvous gewesen, der ersten Verabredungen zu Milchshakes und gemeinsamen Schwimmbadbesuchen.

Sie horchte, um sicherzugehen, dass sie niemand bei ihrem Tun überraschte, aber im Haus war alles still. Nachdem Friederike die Parfumfläschchen nacheinander aufgestöpselt und wieder verschlossen, an der Puderquaste gerochen und sich vorsichtig etwas Rouge auf die Wangen getupft hatte, war sie endlich dazu übergegangen, die Schubladen auf der Suche nach neuen Kosmetika zu öffnen, die ihre Großmutter, Nora Neuberger, von Zeit zu Zeit kaufte – und dabei war es ihr in die Hände gefallen, das Bündel sorgsam gefalteter Briefe mit scharfen Ecken, von einem hellblauen Band gehalten. Sie lagen ganz hinten in einer der Schubladen und waren ihr bisher nie aufgefallen. Vielleicht hatten sie vorher aber auch an anderer Stelle gelegen. Zunächst hatte sie sich gefragt, ob das wohl Liebesbriefe waren, die ihre Großmutter erhalten hatte – schließlich war sie eine schöne Frau –, entweder vom Großvater, was Friederike sich gar nicht hatte vorstellen können, oder, was weitaus romantischer war, von der Liebe ihres Lebens, die sie hatte aufgeben müssen, jedoch nie vergessen hatte.

Friederike hatte in diesen Jahren viel Sinn für Romantik gehabt, malte sich ihr doch so ereignisloses Leben gerne mit etwas Farbe aus. Später sagte sie sich manchmal, es hätte besser alles so bleiben sollen, wie es gewesen war. Schließlich hatte es ihr an nichts gemangelt. Die Großeltern waren besser durch den Krieg gekommen als manch andere. Das Haus war nicht von Bomben getroffen worden. Sie hatten auch nie wirklich hungern müssen. Einmal hatte jemand gesagt, der Krieg habe ihnen das Leben gerettet, aber damit hatte Friederike nichts anfangen können, und sie hatte es schnell vergessen, um sich erst viel später daran zu erinnern.

An jenem Tag war sie schon im Begriff, die Briefe wieder zurück an ihren Platz zu legen, als mit einem Mal doch die Neugier siegte und sie wenigstens auf die Adresse schaute. Kaum einen Lidschlag später hatte ihr Herz in ihrer Brust zu hämmern begonnen: An Fräulein Friederike Josephine Neuberger, dann folgte die Straße, in der sie immer noch wohnten, als Letztes stand da Frankfurt am Main / Germany auf dem Umschlag.

Fräulein Friederike Josephine Neuberger, hatte sie bei sich wiederholt, aber das bin ja ich.

Allerdings hatte sie diese Briefe nie zuvor gesehen. Mit zitternden Fingern löste sie wenig später das Band und hob den ersten Brief näher an ihr Gesicht, als wolle sie ihren Augen nicht trauen. Ihr Name stand da, ihr Name in einer ordentlichen, ihr unbekannten Handschrift. Dazu klebte eine fremde Briefmarke auf dem Umschlag. Australien.

Friederike hatte den ersten Brief gerade auseinanderfalten wollen, als sie draußen Schritte vernahm.



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